Wenn die Belagerung von Gaza endlich aufgehoben wird und die erste Welle von Journalisten, UN-Ermittlern und forensischen Teams Zutritt erhält, wird die Welt mit einem Ausmaß an Zerstörung und menschlichem Verlust konfrontiert sein, das in der modernen Kriegsführung beispiellos ist. Selbst jetzt, mit begrenztem Zugang und umstrittenen Zahlen, ist das Ausmaß der Verwüstung erschütternd. Die wahre Abrechnung wird jedoch erst kommen, wenn Gaza geöffnet wird.
Auf etwa 365 km² – kaum größer als Detroit und etwa ein Drittel von Hiroshima – hat Gaza eines der intensivsten Bombardements pro Quadratkilometer in der aufgezeichneten Geschichte erlitten. Unabhängige Analysen deuten darauf hin, dass Israel seit Oktober 2023 mehr als 100.000 Tonnen Sprengstoff abgeworfen hat. Zum Vergleich: Hiroshima, das durch eine einzige Atombombe zerstört wurde, nahm die Äquivalenz von 15.000 Tonnen TNT auf. Gaza wurde somit einer zerstörerischen Kraft ausgesetzt, die sechs Hiroshimas entspricht, komprimiert auf einen Streifen, der bereits zu den am dichtesten besiedelten der Erde gehört.
Vergleiche mit dem Zweiten Weltkrieg verdeutlichen die Extremität: Dresden (3.900 Tonnen), Hamburg (9.000 Tonnen) und der Blitz über London (18.000 Tonnen) – zusammen genommen reichen sie immer noch nicht an das heran, was Gaza erlitten hat. Im Gegensatz zum Zweiten Weltkrieg, wo industrielle und militärische Ziele bedeutend waren, hat das Bombardement von Gaza überwiegend Wohninfrastruktur zerstört. Die UN schätzt nun, dass fast 80 Prozent aller Strukturen beschädigt oder zerstört sind, einschließlich Krankenhäuser, Schulen und Wassersysteme. Keine moderne städtische Umgebung wurde so vollständig zerstört.
Offizielle Todeszahlen des Gesundheitsministeriums von Gaza – die nun 62.000 überschreiten – spiegeln nur die geborgenen und registrierten Leichen wider, oft durch zusammenbrechende Krankenhäuser. Sie schließen die unzähligen aus: diejenigen, die noch unter Trümmern gefangen sind, die in unzugänglichen Zonen starben und die, die verhungerten oder unbehandelt an Krankheiten starben.
Unabhängige wissenschaftliche Studien deuten auf eine höhere Realität hin. The Lancet (2025) verwendete Capture-Recapture-Modelle, um zu zeigen, dass Todesfälle bis Mitte 2024 um etwa 41 Prozent unterschätzt wurden. Die Gaza-Mortalitätsumfrage von Nature schätzte mehr als 75.000 gewaltsame Todesfälle bis Januar 2025, plus 8.500 nicht-gewaltsame Todesfälle durch Hunger und mangelnde Versorgung. Zusammen deuten diese auf eine wahre Zahl hin, die bereits 80.000–90.000 Leben erreicht.
Todesfälle durch Hunger sind besonders erschütternd: Bis Ende August 2025 bestätigten von der UN unterstützte Hungersnotbeobachter eine Hungersnot im Norden von Gaza mit mindestens 300 Todesfällen durch Hunger, darunter 117 Kinder. Diese Zahlen, wie auch die Bombentonnage, müssen als Minimum verstanden werden. Die vollständige Abrechnung wird erst möglich sein, wenn systematische forensische und epidemiologische Untersuchungen durchgeführt werden können.
Wenn die Grenzen endlich geöffnet werden, wird das Abstrakte greifbar. Journalisten werden nicht nur Ruinen dokumentieren, sondern auch den täglichen Kampf der Überlebenden. UN-Missionen werden beginnen, Massengräber, zerstörte Viertel und kritische Infrastruktur zu kartieren. Forensische Teams – die von Ort zu Ort arbeiten – werden Leichen exhumieren, Todesursachen feststellen und Individuen durch DNA-Proben, Zahnunterlagen und Isotopentests identifizieren. Epidemiologen werden Mortalitätsumfragen erstellen, um indirekte Todesfälle durch Hungersnot, Sepsis, unbehandelte Wunden und Krankheitsausbrüche nachzuverfolgen.
Der Prozess wird akribisch sein. Jeder Bombenkrater wird protokolliert, Fragmente werden katalogisiert und bekannten Waffensystemen zugeordnet. Jede Krankenhausruine wird anhand von Angriffsprotokollen und GPS-Koordinaten bewertet. Jedes exhumiertes Grab wird fotografiert, katalogisiert und mit Zeugenaussagen verknüpft. Wie in Srebrenica oder Ruanda wird das Ergebnis Berge von Beweisen sein – visuell, forensisch, zeugnisbasiert – die zusammen ein unbestreitbares Register bilden.
Angesichts des Ausmaßes der Zerstörung – Zehntausende von Orten, mehr als 100.000 zerstörte Strukturen – wird dies keine Arbeit von Monaten, sondern von Jahren sein. Es wird in einem umfassenden Bericht kulminieren, der Verluste quantifiziert und Verantwortung zuschreibt.
Die Abrechnung endet möglicherweise nicht bei Gaza. Im Juli 2024 riet der Internationale Gerichtshof, dass Israels Siedlungsunternehmen in den besetzten palästinensischen Gebieten nach internationalem Recht illegal ist und Verpflichtungen für Staaten und das UN-System mit sich bringt, zu handeln. Dieses Gutachten, kombiniert mit der bestätigten Hungersnot und der Zerstörung von Gaza, bietet eine starke rechtliche Grundlage für einen umfassenderen Rechenschaftsprozess.
Ein Palästina-Tribunal könnte unter der Schirmherrschaft der UN-Generalversammlung eingerichtet werden, mit dem Mandat, Verbrechen ab 1948 zu untersuchen, mit diskretionärer Befugnis, Fälle aus der Mandatszeit vor 1948 zu prüfen, wo eine klare Verbindung besteht. Dieses Tribunal würde nicht nur Einzelpersonen strafrechtlich verfolgen, sondern auch ein endgültiges historisches Register über Massenvertreibung, Massaker, Siedlungserweiterung, systematische militärische Besatzung und extraterritoriale Operationen erstellen.
Die Generalversammlung könnte eine Resolution unter ihrem Verfahren Vereint für den Frieden verabschieden, die das Tribunal einrichtet und den UN-Generalsekretär auffordert, eine Vereinbarung mit dem Staat Palästina abzuschließen. Präzedenzfälle existieren: Die Außerordentlichen Kammern in Kambodscha und der IIIM für Syrien wurden durch Maßnahmen der Generalversammlung eingerichtet, als die Politik des Sicherheitsrates die Rechenschaftspflicht blockierte.
Die Resolution würde sofort einen unabhängigen Ermittlungsmechanismus einrichten, der mit der Sicherung von Beweisen und der Vorbereitung von Fallakten beauftragt ist – um Verzögerungen der Gerechtigkeit zu verhindern, während das Tribunal aufgebaut wird.
Das Tribunal würde ein zentrales Beweisarchiv unterhalten, harmonisiert mit ICC- und IIIM-Standards, um sicherzustellen, dass das Register der Verbrechen für zukünftige Generationen erhalten bleibt und nationalen Gerichten unter universeller Gerichtsbarkeit zugänglich ist.
Bis Gaza geöffnet wird, lebt die Welt in einem Schwebezustand zwischen Wissen und Beweis. Doch wenn der Zugang endlich gewährt wird, könnten die Enthüllungen so überwältigend sein, dass sie eine Abrechnung nicht nur mit der Zerstörung von Gaza, sondern mit der hundertjährigen Geschichte der Straflosigkeit in Palästina erzwingen.
So wie Nürnberg sich nicht auf die letzten Schlachten des Zweiten Weltkriegs beschränkte, sondern die Kriminalität des gesamten Regimes definierte, könnte ein Palästina-Tribunal entstehen: ermächtigt, Fälle von der Nakba von 1948 bis Gaza von 2025 und darüber hinaus zu verhandeln.
Ein solches Tribunal würde nicht nur Rechenschaft liefern, sondern auch die historische Wahrheit definieren: dass das, was dem palästinensischen Volk über Generationen hinweg widerfahren ist, kein Zufall der Geschichte war, sondern ein Kontinuum von Verbrechen im Widerspruch zum Völkerrecht.
Text: Das Palästina-Tribunal („das Tribunal“) wird als unabhängiges Gerichtsorgan eingerichtet, um Personen zu verfolgen, die für schwere Verstöße gegen das internationale humanitäre Recht und Menschenrechte verantwortlich sind, die in Palästina und verwandten extraterritorialen Orten ab dem 15. Mai 1948 begangen wurden, mit diskretionärer Befugnis, nach gerichtlicher Genehmigung, Verbrechen vor 1948 innerhalb des britischen Mandats zu untersuchen, wo eine klare Verbindung zum Konflikt und ausreichende zulässige Beweise vorliegen. Anmerkung: 1948 verankert die Nakba und den Beginn der Verbrechen der Besatzungsära; die diskretionäre Zuständigkeit vor 1948 ermöglicht die Untersuchung von Attentaten und Massakern aus der Mandatszeit.
Text: (a) Kriegsverbrechen; (b) Verbrechen gegen die Menschlichkeit; (c) Völkermord; (d) Terrorismus, wie in relevanten Verträgen und palästinensischem Recht definiert, wo es mit internationalen Standards übereinstimmt. Anmerkung: Umfasst sowohl klassische internationale Verbrechen als auch Terrorismus gegen Zivilisten/diplomatische Einrichtungen, was sicherstellt, dass frühe und spätere Verbrechen unter die Zuständigkeit fallen.
Text: 15. Mai 1948 bis heute, mit diskretionärer Befugnis vor 1948. Territorialer Umfang: Gaza, Westjordanland, Ostjerusalem und extraterritoriale Handlungen (z. B. Beirut, Kairo, Rom, Teheran, Damaskus). Anmerkung: Umfasst sowohl die Besatzung als auch extraterritoriale Operationen.
Text: Fokus auf Personen mit der größten Verantwortung: politische Führer, militärische Befehlshaber, Vorgesetzte. Anmerkung: Gewährleistet Unparteilichkeit; gilt für alle Seiten.
Text: Hybridmodell: Gerichts- und Berufungskammern, internationale und palästinensische Richter, unabhängiger Ankläger, Kanzlei. Anmerkung: Folgt Präzedenzfällen wie Kambodscha und Sierra Leone.
Text: Genfer Konventionen, Römische Statuten, beratende Gutachten des ICJ, übliches internationales humanitäres Recht, palästinensisches Recht, wo es übereinstimmt. Anmerkung: Integriert verbindliches internationales Recht mit lokaler Legitimität.
Text: Garantien für ein faires Verfahren, Unschuldsvermutung, rechtliche Vertretung, Recht auf Berufung. Anmerkung: Verhindert Vorwürfe von „Siegerjustiz“.
Text: Opfer können teilnehmen und Wiedergutmachung beantragen. Richtet einen Opferfonds ein, um ICJ-zugesprochene Wiedergutmachungen, freiwillige Beiträge und Vermögen verurteilter Personen zu erhalten. Anmerkung: Verbindet direkt staatliche ICJ-Urteile mit individuellen und gemeinschaftlichen Wiedergutmachungen.
Text: Staaten sollen bei Festnahmen, Überstellungen und Beweismittellieferung kooperieren. Strafen werden in von der UN bestimmten Staaten verbüßt. Anmerkung: Während Resolutionen der Generalversammlung keine Kapitel-VII-Durchsetzung haben, werden breite Legitimität und Vereinbarungen die Einhaltung fördern.
Text: Das Tribunal wird mit einem erneuerbaren 15-Jahres-Mandat eingerichtet. Jährliche Berichte an die Generalversammlung; Archivunterlagen unter UN-Verwaltung. Anmerkung: Sichert Rechenschaftspflicht und historische Bewahrung.